Hiergeblieben — Aleksa Muncan

Abschiebungen treffen Menschen oft unerwartet. Der 19-jährige Aleksa Muncan weigerte sich, still zu verschwinden. Mit einer Petition und breiter Unterstützung aus der Zivilgesellschaft erstritt er sein Recht, in Deutschland zu bleiben.
5. Juni 2025
7 Minuten Lesezeit
Text: Ruth Klages — Fotos: Kaja Grope

Schritt für Schritt, immer weiter die Stufen hinauf, die nicht enden wollen. Durchhalten, auch wenn es anstrengend ist. Sechs Stockwerke später kommt Aleksa Muncan an. Das Hamburger Azubi-Wohnheim ist außerhalb der Geflüchtetenunterkunft sein erstes eigenes Zuhause in Deutschland. Glücklich sei er, hier spontan einziehen zu können und endlich anzukommen. An eine Wand in seinem Zimmer hat er Schreiben vom Jobcenter und anderen Behörden gepinnt.

Es war ein Brief, der sein Leben im letzten Jahr plötzlich ins Wanken brachte – die Post als ein Bote eines Systems, das Menschen in gewollt und ungewollt einteile. „Wie aus dem Nichts kam das Schreiben der Ausländerbehörde“, erinnert sich Aleksa Muncan. Nach inzwischen sieben Jahren in Deutschland, in denen er sich ein Leben hier aufgebaut hat, hatte er nicht mehr mit einer solchen Nachricht gerechnet. „Ich frage mich wirklich, wer auf die Idee gekommen ist, mich, meine Mutter und meine Schwester abzuschieben.“

2019 kam Aleksa Muncan nach Hamburg. In Serbien hielt ihn nichts mehr. Seine Eltern waren schon einige Jahre früher für eine Operation des Schwiegervaters nach Deutschland gereist. Dessen gesundheitlicher Zustand war dramatisch schlecht und eine Behandlung wegen der mangelnden medizinischen Versorgung zuhause nicht möglich. „Er wog nur noch 40 Kilo und wäre fast gestorben“, beschreibt Muncan seinen Zustand. Der Schwiegervater sitzt seitdem im Rollstuhl, Muncans Mutter pflegt ihn.

Weit entfernt von den Menschen, die er liebt, und diskriminiert wegen seiner Bisexualität, war Aleksa Muncan in Serbien nicht mehr sicher: „Ich wollte nicht alleine bleiben und habe meine Eltern vermisst.“ Als die Familie später den Flüchtlingsstatus beantragte, ging er hinterher.

Um an den Pass für die Ausreise zu kommen, brauchte Muncan unerwartet das Einverständnis seines biologischen Vaters. Lange hatte er nichts von ihm gewusst. „Als ich klein war, wollte er uns umbringen – im Auto auf der Autobahn. Das hat mir meine Mutter gesagt“, so Muncan. Der Vater habe damals den Wagen bewusst in die Leitplanke gelenkt. Er sei noch immer psychisch belastet, verwickelt in Mafia- und Sektenstrukturen und nehme Drogen.

Die Vollmacht für die Beantragung gab er seinem Sohn. „Mit 13 habe ich den Pass bekommen, zwei Wochen später war ich unterwegs nach Deutschland.“ Doch lange blieb das Dokument nicht in seinem Besitz. Die Ausländerbehörde nahm den Pass zur Prüfung an sich. „Fünf Jahre musste ich dafür kämpfen, dass ich ihn wiederbekomme. Das ist eigentlich illegal, aber das war denen egal“, berichtet Muncan kopfschüttelnd.

Angst vor der Abschiebung

Wenn Ausländerbehörden die Pässe von neu immigrierten Menschen konfiszieren, liegt das oft an routinemäßigen Prüfungen. Um Ausweisdokumente länger einzubehalten, braucht es einen triftigen Grund, zum Beispiel eine laufende Abschiebung. Da Muncan in den fünf Jahren aber geduldet war, griff die Behörde so erheblich in seine Grundrechte ein. Unterstützung habe er durch den Anwalt der Familie erfahren. Wie wichtig die war, sollte sich noch zeigen.

Abschiebungen hatte die Familie in der Geflüchtetenunterkunft in Hamburg oft aus nächster Nähe erlebt. Ein Nachbar hatte damals den gleichen Brief bekommen, der später auch Aleksas Aufenthalt in Deutschland bedrohen sollte. Eines Nachts verschwand er und kam nie wieder. 

Seitdem sorgte sich die Familie Muncan, irgendwann dasselbe erleben zu müssen. „Wenn wir schlafen gingen, hatten wir Angst, abgeschoben zu werden, weil wir in Serbien auf der Straße gelandet wären.“ Kontakte in die alte Heimat würde es keine mehr geben. Muncan hatte oft Albträume. Denn er wisse um das Vorgehen der Polizei: „Die kommen unerwartet – und immer dann, wenn die Familie schläft und wenn alle zusammen in einem Raum sind.“

Deshalb hatten sie Vorkehrungen getroffen. Über viele Wochen habe Muncan nicht zuhause, sondern bei seiner Freundin oder einer Nachbarin geschlafen. Wenn die Familie getrennt ist, so der Gedanke, kann sie nicht abgeschoben werden. Bis sich die Situation entspannt hatte, lebten sie auf gepackten Koffern und in großer Ungewissheit. Eine besonders angespannte Situation für Muncans kleinen Bruder, der an Epilepsie erkrankt ist und nachts nicht geweckt werden sollte. Alles war gepackt, „damit für ihn so wenig Stress wie möglich entsteht.“

Aleksa Muncan schluckt, als er von den Nächten erzählt. „Wir wollten unbedingt verhindern, dass mein Bruder einen epileptischen Anfall bekommt.“ Die dauerhafte Anspannung machte Muncan krank: Eine chronische Hautkrankheit ist für ihn zum täglichen Begleiter geworden. 

Nachdem Aleksa Muncan den Abschiebebescheid bekam, schenkten ihm seine Kumpel aus dem Volleyballverein einen signierten Ball als Andenken. Im Verein betreute er ehrenamtlich Kinder. Geld habe er damals nicht bekommen, weil er keinen Aufenthaltstitel hatte. „Ich hatte mich schon verabschiedet“, erinnert sich Muncan. Aber einer seiner Freunde wollte das nicht hinnehmen. Über dessen Familie kam Aleksa Muncan mit einer Journalistin des Hamburger Abendblattes in Kontakt – und so entstand der Plan, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. „Meine Mutter hatte Angst vor diesem Schritt und meinte: Bitte lasst mich da raus. Aber ich wusste, wir müssen das wirklich machen, damit die Leute die Ungerechtigkeit erkennen.“

Petition für das Bleiberecht

In Interviews und in einem Fernsehbeitrag hatte Aleksa Muncan die Möglichkeit, von seiner Situation zu erzählen. Das hatte auch Schattenseiten: Vom Frühstücksfernsehen habe er sich ausgenutzt und auch angelogen gefühlt. Dort sei seine Handynummer eingeblendet worden, woraufhin belästigende Nachrichten auf ihn eingeprasselt seien. Aufgeben wollte er nicht, „egal, wie schwer es ist.“ Mit einer Abschiebung wäre für ihn die Welt zusammengebrochen, erzählt Muncan: „Hier habe ich alles, in Serbien habe ich gar nichts.“

Als die Schulsprechenden seiner alten Realschule von der drohenden Abschiebung erfuhren, war schnell klar, dass sie helfen wollen. Geschockt und berührt seien sie gewesen. Beyoncé Owusuaa ist seit mehreren Jahren Schulsprecherin an der Stadtteilschule Wilhelmsburg und überzeugt: „Egal, ob es eine Abschiebung ist oder jemand gemobbt wird: Wenn ein Mensch Hilfe braucht, dürfen wir nicht warten, sondern müssen selbst etwas beitragen.“

In der Zeitung der Schule erschien wenig später ein Interview mit Muncan, der im Jahr davor seinen Abschluss gemacht hatte. Mit der Idee, eine Petition zu starten, sei er auf viel Zuspruch bei den anderen Jugendlichen gestoßen. Sie begannen damit, Texte zu verfassen, blieben abends länger in der Schule und sammelten an der Tafel Gründe, warum Muncan bleiben müsse. Die meisten an der Schule in Wilhelmsburg hätten einen Migrationshintergrund, weiß Beyoncé Owusuaa. „Und manche merken gar nicht, wie positiv Migration eigentlich ist.“ Als spätabends alle Argumente zusammengetragen standen, war die Tafel vollgeschrieben. 

Die jungen Menschen verbreiteten die Petition. Richtig erfolgreich sei sie aber durch die Plattform innn.it geworden. Aleksa Muncan habe die Betreibenden angeschrieben und die versprach, ihn zu unterstützen. Über einen geteilten Aufruf im Newsletter kamen auf einmal Tausende Unterschriften hinzu. Beyoncé Owusuaa erzählt, wie viele Menschen sich durch die Petition an sie gewendet und Hilfe angeboten hätten. Die Schulsprecherin spürt noch immer, wie groß damals Freude und Überforderung waren: „Wir hatten Angst, dass wir es schlimmer machen, weil wir uns in das Verfahren einmischen.“ Aber die Gewissheit, für Gerechtigkeit zu kämpfen, habe sie angetrieben. Einige Mitstreitende haben sogar in der Ausländerbehörde angerufen und sich über das Verfahren beschwert.

Nach einem Jahr des Bangens kam Anfang April die frohe Botschaft: Muncan darf bleiben – erstmal zumindest. Er habe mit seiner Freundin unter dem Sternenhimmel gefeiert. Sein Glück habe er kaum fassen können. Die Aufenthaltsgenehmigung gilt für drei Jahre: immerhin lang genug, um ein normales Leben zu führen. „Ich fühle mich sicherer. Als wäre ich jetzt wirklich zuhause in Hamburg. Endlich habe ich keinen Druck mehr und denke, ich werde morgen um drei Uhr von der Polizei abgeschoben.“

Problem Ausländerbehörde

Der ganze Prozess sei extrem zermürbend gewesen, der Kontakt mit der Ausländerbehörde kompliziert. Fünfmal wurde Muncan vorgeladen. Er ist noch immer empört darüber, wie dort mit Menschen umgegangen werde. Stundenlanges Warten sei Normalität. Aber das ist nicht das größte Problem, findet er: „Die Mitarbeitenden sind sehr abgehoben und machen Leute fertig, wenn sie kein Deutsch können.“ Die Termine bei der Behörde aber seien für die meisten entscheidend für deren Existenz. „Du musst unbedingt kommen, auch wenn du kaputte Arme oder Beine hast.“ Muncan erinnert sich an eine Frau, die mit gebrochenem Bein und auf einer Rollliege in die Behörde gekommen sei. „Sie hat geheult und meinte, sie schaffe das nicht, sie möchte sich ausruhen, aber sie musste trotzdem dort warten.“

„Ich wünsche mir, dass Entscheidungen schneller getroffen werden“, kritisiert Muncan. Seine Mutter sei von der Behörde sogar getäuscht worden. Der Angestellte habe sie gezwungen, einen Antrag auszufüllen. Auch der Dolmetscher habe auf sie eingeredet, sie könne ohne eine Unterschrift keine weiteren Anträge stellen. „Sie war kurz davor zu unterschreiben und hätte sich so fast selbst nach Serbien abgeschoben“, erzählt Sohn Aleksa. Die Mutter brachte den Antrag, bei dem es nicht um die Aufnahmegenehmigung ging, sondern um ihre Abschiebung, mit nach Hause, wo ihn die ganze Familie las. Und sie gaben ihn weiter an den Anwalt, der alle Dokumente für sie prüft und ausfüllt – oder es, wie in diesem Fall, bewusst lässt.

Von vielen Seiten erfährt Aleksa Muncan Unterstützung. Über die Zeit entstanden Kontakte in die Politik. Ein Beamter einer anderen Ausländerbehörde hilft ihm inzwischen beim Ausfüllen von Dokumenten. Dass das Verfahren positiv endete, sei seiner Hartnäckigkeit geschuldet. Hilfe habe es aber genauso gebraucht. „Alleine hätte ich das niemals schaffen können. Du musst wirklich sehr, sehr viel Unterstützung haben und Leute, die einem helfen.“

In der Ausländerbehörde habe er gesehen, „dass es noch schlimmere Fälle gibt. Kinder, die aus dem Krieg kommen und traumatisiert sind.“ Mit dem ersten Ausbildungsgehalt wolle er Essen und Trinken kaufen und an Obdachlose in der Stadt verteilen. Vor allem aber möchte er endlich reisen – nach Italien oder Spanien. Und später nach Japan, das sei der Wunsch seiner Freundin. Mit ihr plane er dieses Jahr auch eine Hochzeit. Sie bedeute ihm alles, lächelt er.

Und er wolle sich „hocharbeiten“ – vom Krankenpfleger zum Psychiater. Hocharbeiten, weil er sich dafür interessiert, aber auch weil er weiß, dass er es muss. Noch mehr leisten als andere, um akzeptiert zu sein. Das hätten ihm die letzten Jahre in Deutschland deutlich gezeigt. Das Wichtigste aber hat sich Muncan längst erarbeitet: Ihm ist es gelungen, seinen Briefkasten zu einem öffentlichen Ort zu machen und seine Abschiebung zum Anliegen vieler Menschen, die mit ihm Schritt für Schritt seine Heimat bauen.

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