Große Töne — Andreas Brand

Andreas Brand ermöglicht Menschen das Musizieren, denen es sonst verwehrt bleiben würde. Mit neuen Technologien verfolgt der Musikdesigner aber eine weit größere Vision – und hofft auf einen gesellschaftlichen Wandel.
11. Juli 2022
4 Minuten Lesezeit
Text: Kiara Francke —  Fotos: Sophie Tichonenko

Peter Schaz hebt seine Augenbrauen im Takt der Musik. Die Stirn leicht in Falten gelegt, den Blick konzentriert auf den Bildschirm des Laptops gerichtet. Seine Lippen werden von einem leichten Lächeln umspielt. Er wirkt gelöst, ganz bei sich. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Nicht Schaz bewegt sich zum Takt, sondern andersherum: Mit den Bewegungen seiner Augen erzeugt er die Klänge – und das mithilfe ausgeklügelter Technik.

Den jungen Mann erfüllt es, Rhythmen und Melodien zu erzeugen. Er vernetzt sich darüber mit anderen und verbindet sich auch mit sich selbst. Denn: Kommunizieren, das geht auch ohne Worte. Selbstverständlich war das für Peter Schaz aber lange Zeit nicht. Menschen mit Behinderung haben nach wie vor einen erschwerten Zugang zum Erlernen eines Instruments. Musizieren bleibt deshalb ein Privileg – ein Zustand, den Andreas Brand ändern möchte. Nach Abschluss seines Musikstudiums stellte sich der Mittdreißiger die entscheidende Frage: „Wie kann Erlerntes eine gesellschaftliche Relevanz haben?“ Die Antwort: sein Projekt Musiklusion

Brands Vision ist von Beginn an klar: „Ich möchte Menschen mit Behinderung das Musizieren ermöglichen.“ Der Musikdesigner versucht, motorische und geistige Barrieren herkömmlicher Instrumente mithilfe digitaler Technologien zu umgehen. Seine Ideen entwickelt er gemeinsam mit den Musizierenden – zum Beispiel mit Peter Schaz, dem Schlagzeuger. Schaz hatte den Wunsch, Instrumente mit seinem Gesicht steuern zu können. Nun programmiert er Rhythmen und erstellt Patterns, die er anschließend durch seine Mimik abrufen und verändern kann.

Welche Module gespielt werden sollen, wird durch sogenanntes Eye-Tracking entschieden – heißt: Bewegt Peter Schaz seine Augenbrauen auf eine bestimmte Art, wird das Schlagzeug entsprechend angesteuert. Technologisch wurde das Instrument so erweitert, dass es über digitale Schnittstellen spielbar wird. Vollendet wird dieser Kreislauf dennoch in der analogen Welt; in Schaz‘ Fall durch das automatisierte Schlagen auf Trommeln und Becken. Und die Gesichtserkennung ermögliche es sogar, zwei Instrumente gleichzeitig zu spielen. 

Potenziale neuer Technologien

Auch David Dora war von Beginn an am Pilotprojekt Musiklusion beteiligt. Für ihn sei schnell klar gewesen, wonach er sich sehnt: „Ich habe nach einem Klavier gefragt.“ Gesungen habe er schon immer gerne, doch wegen seiner Behinderung blieb ihm diese Tür verschlossen. Heute kann er sich beim Singen selbst auf dem Klavier begleiten. Statt schmaler Klaviertasten nutzt er große, mit der ganzen Hand bedienbare Touchfelder auf einem Display.

Technik schafft Inklusion: Musizieren mit Eye-Tracking.

Der Spaß stehe bei all dem im Vordergrund, beschreibt Andreas Brand. Welche unerwarteten Effekte das Musizieren mit sich bringt, sei ohnehin erst mit der Zeit deutlich geworden. Das tägliche Üben am Klavier etwa habe die Motorik seines Musikschülers verbessert: „Das wirkt sich wiederum positiv auf Alltagssituationen und die Selbstwirksamkeit aus.“

Menschen mit Behinderung müssen die Möglichkeit haben, ihr kreatives und künstlerisches Potenzial zu entfalten – nicht nur für sich selbst, auch zur Bereicherung der Gesellschaft. So heißt es in Artikel 30 der UN-Behindertenkonvention. Weiter heißt es, dass die Verwirklichung dieses Rechts häufig stark zu wünschen übrig lasse und konkrete Maßnahmen fordere. Neue technische Chancen im digitalen Zeitalter werden dabei als „Meilenstein“ erkannt. Brand stimmen die technischen Möglichkeiten optimistisch, denn sie ermöglichen, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten: „Die Digitalisierung bringt ein unglaubliches Potenzial mit sich.“

Musikdesigner Andreas Brand drängt auf Veränderung.

Wie das in der Realität aussehen kann, haben die Musizierenden des Projektes bereits gezeigt. Der Drang, durch ein öffentliches Event auf sich aufmerksam zu machen, sei groß gewesen, erzählt Brand: „Der erste Auftritt vor Publikum war für uns alle ein eindrückliches Erlebnis, sodass wir gesagt haben: ‚Das möchten wir intensivieren.‘“ So sei schließlich der Wunsch entstanden, sich mit anderen Menschen außerhalb des Projektes zu verbinden. Die Musikgruppe habe nicht länger in geschlossenen Räumen „vor sich hin wurschteln“, sondern nach außen hin Offenheit und Interesse an musikalischer Zusammenarbeit zeigen wollen – wenn auch coronabedingt vorerst im digitalen Raum.

Hoffen auf echte Veränderung

Durch die Pandemie entstand zunächst ein Projekt zum musikalischen Austausch mit Abstand. Verbunden über den Bildschirm, konnten Kulturschaffende von außerhalb Stücke singen und wurden von Menschen des Projektes instrumental begleitet. Diese Interaktion sei eine enorme Bereicherung, sagt Brand. Sie lockere die Gemeinschaft auf und schaffe neue Impulse – durch den musikalischen Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.

Um das gemeinsame Musizieren weiter zu fördern, initiierte das Team im letzten Jahr einen neuen Wettbewerb: „Grenzenlose Konzerte“. Es wurden zusammen Videos gedreht, erzählt Schlagzeuger Peter Schaz. Er habe einen Beat programmiert und andere hätten seine Idee weitergedacht und etwas Eigenes kreiert. Am Ende haben über 120 Menschen teilgenommen – auch solche, zu denen bislang kein Kontakt bestand. „Es gab einen Gewinner, der hat Geld bekommen“, erinnert sich Schaz zurück. Ein nächstes Event könne er kaum erwarten.

Momentan wird an einem Musikstück gearbeitet, das mit einem experimentellen Komponisten als Videoproduktion entsteht. Um künftig aber noch sichtbarer zu werden, soll bald auch mit bekannteren Gesichtern musiziert werden. „Ich hab den Wunsch, dass ich mal mit Berühmten was mach. Mit der Band Santiago. Dass ich da Schlagzeug spiele“, sagt Schaz selbstbewusst.

Andreas Brand träumt hingegen von noch mehr: von einem Wandel zur „inklusiv denkenden und handelnden Gesellschaft“. Er denkt dabei an ein heterogenes Miteinander, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten inklusiver Kulturaktivitäten und die Überwindung von Normungen und institutionellen Rahmen. Was ihn motiviert? Der Grundstein für Brands Engagement sei bereits im Studium gelegt worden – durch „eine stoische Lebensphilosophie“, wie er es nennt. Diese definiert alle Menschen als aktiven Teil der Gesellschaft und als einen Teil, der etwas verändern kann. Wie bei einem Puzzle hätten sich sein musikalisches und soziales Interesse zu einer Idee vereint. Mit Musiklusion will Andreas Brand auch in Zukunft experimentieren, um ein gesellschaftliches Umdenken zu beschleunigen. 

Veto widmet den Mutigen und Engagierten im Land ein eigenes Magazin – 24/7 online und als gedrucktes (!) Heft: www.veto-mag.de/gedruckt

Weiterlesen

Freie Kunst — Anika Krbetschek

Für Anika Krbetschek ist die Kunst Therapie und ein Schwert im Kampf gegen Ungerechtigkeit zugleich. Und genauso Sprachrohr für das, was in ihr und um sie herum passiert. Ihre Mission hinter allem: Kunst für alle zugänglich machen.

Nonspiration — Kolumne Luisa L’Audace

Was bedeutet es, mit geringen Kapazitäten sein Leben zu bestreiten und diese über den Tag hinweg einteilen zu müssen? Die Spoon Theory lehrt uns, dass jede Tätigkeit Energie kostet und schon gar nicht selbstverständlich ist.

Gefängnis ohne Gitter — Tobias Merckle

Eine Alternative zum Gefängnis ganz ohne Zellen, Gitter und Mauern. Was nach einer Utopie klingt, hat Tobias Merckle Wirklichkeit werden lassen: mit einer familienähnlichen Einrichtung für jugendliche Straftäter.

Seite an Seite — Hannah Reuter

Assistenzhunde wie Daika übernehmen einen überlebenswichtigen Job: Sie navigieren den Menschen am anderen Ende des Geschirrs sicher durch den Alltag. Viele Wege aber bleiben den tierisch-menschlichen Teams verwehrt.

Nonspiration — Kolumne Luisa L’Audace

„Ohne Instagram und TikTok wüsste ich wahrscheinlich bis heute nicht, dass ich Autistin bin und ADHS habe.“ Warum das Internet meist unsere einzige Möglichkeit ist, um uns selbst zu helfen. Eine Einordnung.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.